Erste Kriegsflüchtlinge im Landkreis Sankt Wendel angekommen

„Wir erleben eine Zeitenwende“ – eindringlich verurteilt Bundeskanzler Olaf Scholz während der Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar den flächendeckenden Angriff Russlands auf die Ukraine. In den frühen Morgenstunden des 24. Februars überschreitet russisches Militär die Grenzen des Nachbarstaates: Panzerkolonnen rollen, Kampfflugzeuge fliegen, Artilleriebomben schlagen ein. Der Krieg ist entfesselt. Die Detonationen wecken auch Cevdet Kayrak (40), der mit seiner Frau Ludmilla (36) und dem elfjährigen Sohn in Kiew wohnt. Sie erleben die Zeitenwende hautnah. „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass es soweit kommt“, sagt Kayrak. „Wir dachten, dass Russland die so genannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk annektiert, vielleicht einen Korridor zur Krim will. Nicht, dass das ganze Land angegriffen wird.“

Rund 30 km von Kayraks Wohnung ist der Flughafen Kiew-Boryspil entfernt. Eines der ersten Ziele russischer Bomben. „In den Nachrichten haben wir es gehört, Nachbarn sprachen darüber, dass Flughäfen beschossen werden. Ganz in unserer Nähe, 2 km entfernt, ist ein weiterer, kleinerer Flughafen. Wir befürchteten, dass auch dieser angegriffen werden würde.“ Kayrak bringt seine Familie zu den Schwiegereltern in Sicherheit, will Geld abheben – zweieinhalb Stunden steht er am Geldautomaten an –, versucht, das Nötigste auf die Schnelle einzukaufen. Und kontaktiert seinen Freund Ibrahim Kocka, der gerade mit Frau Tatjana und der 22 Monate alten Tochter in Tschernihiw, einer Stadt nördlich von Kiew, ist. Dort wohnt die Schwiegermutter. Der Entschluss ist schnell gefasst: Die Familien wollen vor dem Krieg flüchten.

Freitag, 25. Februar: Erneut reißen Bombeneinschläge Familie Kayrak aus dem Schlaf. Früher als am Tag zuvor, bereits gegen 4.20 Uhr sind die Detonationen zu hören. „Wir haben alle im Flur auf Matratzen geschlafen, um vor einem möglichen Einschlag etwas geschützt zu sein“, erinnert sich Kayrak. Um Tschernihiw steht bereits russisches Militär. Kocka gelingt es, nach Kiew durchzukommen.

In der ukrainischen Hauptstadt steigen Kocka und Kayrat mit ihren Familien gegen 17 Uhr in ein Auto. Zuvor packen sie schnell einige Sachen für die Kinder ein, jeder Erwachsene nimmt einen kleinen Rucksack. Das Nötigste. Kayrat: „Zunächst sind wir Richtung Odessa gefahren, dabei ständig im Internet nachgeschaut, welche Straßen noch frei sind, welche Wege noch befahrbar. Als wir lasen, dass eine Brücke wahrscheinlich zerstört wurde, fiel die Entscheidung, Richtung Polen zu fahren.“ Das Auto, das die beiden Familien Richtung Westen bringt, ist vollgetankt. Ein Glück: An Tankstellen dürfen nur noch höchstens 20 Liter getankt werden.

15 Stunden brauchen die beiden Familien für die 650 km lange Strecke. Am Grenzübergang am polnischen Dorf Zosin weitere 36 Stunden für 14 km. „Es war für uns kein Problem, die Grenze zu überschreiten, da Ibrahim und ich keine ukrainischen Staatsbürger sind, sondern den türkischen Pass haben. Männliche Ukrainer dürfen das Land nicht verlassen“, erläutert Kayrat.

Im Grenzdorf Zosin verteilen Polen kleine Stärkungen, warme Getränke. Kayrak hat bereits einen Bruder kontaktiert, der im Landkreis Sankt Wendel wohnt. Der Bruder und ein Freund sind unterwegs zur polnisch-ukrainischen Grenze. Über 1.500 km. Gemeinsam geht es zurück, verteilt auf zwei Autos. Die Odyssee endet am 28. Februar. Beide Familien kommen im Landkreis Sankt Wendel an. Die erste Nacht verbringen sie bei Bekannten, danach ziehen sie in die St. Wendeler Welvertstraße, wo die Lebenshilfe, eine gemeinnützige GmbH, eine Wohnung zur Verfügung stellt. „Um uns auf die zu erwartende Flüchtlingswelle vorzubereiten, haben wir bereits den Krisenstab einberufen, Bürgerinnen und Bürger gebeten, Wohnraum zu melden. Wir haben bereits über 200 Meldungen, zudem nehmen Menschen mit uns Kontakt auf, die auf andere Art und Weise helfen wollen, etwa als Übersetzer“, sagt der St. Wendeler Landrat Udo Recktenwald.

„Die Hilfsbereitschaft und Unterstützung, die wir hier erfahren, ist überwältigend. Wir sind glücklich, dass wir endlich in Sicherheit sind. Auch die vielen Solidaritätsbekundungen sind wichtig. Sie zeigen, dass die Menschen in der Ukraine nicht allein sind“, sagt Kayrak. Doch Freunde und Familie sind weiterhin im Kriegsgebiet. Jeden Tag versuchen Kayrak und Kocka, mit ihnen zu telefonieren. Die beiden Familien haben alles zurückgelassen: Jobs, Eigentumswohnungen, Autos. Wie es weitergehen wird, wissen sie nicht. „Wir träumen, dass der Krieg bald endet. Doch wohin sollen wir zurück? In eine ausgebombte Wohnung, Stadt? Ich mache mir Sorgen um meine Verwandten, die noch in der Ukraine sind. Jeden Tag weine ich deswegen“, sagt Kayraks Frau Ludmilla.

Die Zeitenwende ist vor allem eine humanitäre Katastrophe. Recktenwald: „Daher ist es unsere Pflicht, schnell zu helfen, jenen, die vor dem Krieg flüchten, Schutz und Obdach zu bieten. Unsere Solidarität und Empathie gilt ihnen. Unsere Unterstützung werden sie erhalten.“

Hilfe für Ukraine-Flüchtlinge

In den kommenden Tagen rechnet der Landkreis Sankt Wendel mit den ersten Zuweisungen ukrainischer Flüchtlinge über das Innenministerium. Wie viele es sein werden, ist ungewiss. Hinzu kommen jene – wie etwa die Familien Kayrak und Kocka –, die über private und familiäre Kontakte in die Region kommen.

Die Verteilung der Flüchtlinge soll nach Quote und in Rücksprache mit Land, Landkreis und Gemeinden in den einzelnen Kommunen erfolgen. Landrat Recktenwald hat mit Innenminister Bouillon vereinbart, dass in den beiden Hotels ZOE in Bliesen und Oberthal – der Betreiber stellt die Hotels zunächst kostenlos zur Verfügung – eine Dependance zur Landesaufnahmestelle in Lebach eingerichtet wird. Dies meint, dass zugewiesene oder privat zureisende Flüchtlinge dort für den Übergang untergebracht werden. Hier wird auch die Registrierung über Lebach organisiert. Es gibt dabei keine Wohnsitzauflage, Flüchtlinge sind somit nicht an zugewiesenen Wohnraum gebunden.

Eine Registrierung ist Voraussetzung dafür, nach dem Asylbewerber-Leistungsgesetz Leistungen zu erhalten. Die Massenzustrom-Richtlinie der EU wird derzeit in nationales Recht umgesetzt und soll am 9. März rückwirkend zum 24. Februar in Kraft treten. Dies bedeutet für die Betroffenen ein vereinfachtes Verfahren. Sie müssen nicht einzeln Asylanträge stellen, sondern erhalten mit der Registrierung automatisch den Asylstatus und bei Bedürftigkeit die entsprechenden Leistungen, ebenso eine Arbeitserlaubnis. Arbeit aufnehmen können sie jedoch erst, wenn sie den offiziellen Aufenthaltstitel haben. Für die Vermittlung in Arbeit ist die Arbeitsagentur zuständig.

„Ich hätte es für besser gefunden, wenn die Flüchtlinge nicht über Asyl, sondern über SGB II und damit über den Leistungsbezug unseres Jobcenters behandelt würden“, kommentiert Landrat Recktenwald. Denn im Asylgesetz gelte ein gekürzter Regelsatz, ein eingeschränkter Krankenschutz und eine andere Finanzierung. Zudem sei die Freigrenze bei Vermögensprüfung sehr niedrig. Flüchtlinge aus der Ukraine können Sprach- und Integrationskurse besuchen, sofern es freie Plätze gibt. Im Landkreis Sankt Wendel können die Anmeldungen über die Kommunale Arbeitsförderung laufen, die dann gemeinsam mit den Trägern die Kapazitäten in den Kursen bespricht.

Recktenwald: „Wir werden uns dennoch in den nächsten Wochen damit befassen, wie wir konkret Spachförderung, Integration sowie Kinderbetreuung und Beschulung von Kindern sicherstellen können. Auch hier arbeiten Landkreis und Gemeinden Hand in Hand zusammen. Zudem sollen Träger der Wohlfahrtspflege zur Begleitung und Betreuung eingebunden werden.“

Das Jobcenter hält zwei russischsprechende Mitarbeiter als Sprachmittler zur Verfügung. Insgesamt stehen bei der Kommunalen Arbeitsförderung fünf Mitarbeiter als Ansprechpartner der Kommunen und der Betroffenen für die Verteilung, Zuweisung und fachliche Absprache zur Verfügung. Durch die Kreiskasse der Landkreisverwaltung wird Bargeldauszahlung gewährleistet. Die Kreissparkasse St. Wendel steht mit drei russisch- und ukrainisch sprechenden Mitarbeitern zur Verfügung, wenn es um die Eröffnung eines Kontos geht.

Der Landkreis Sankt Wendel hat eine zentrale E-Mail-Adresse eingerichtet: Ukrainehilfe@lkwnd.de. Hier können Bürgerinnen und Bürger aus dem Landkreis freien Wohnraum für Flüchtlinge melden, ebenso Menschen, die Russisch oder Ukrainisch sprechen.

Der benachbarte Saarpfalz-Kreis, der enge Kontakte nach Polen und in die Ukraine pflegt, hat in Kooperation mit dem Ökologischen Schullandheim Spohns Haus ein Spendenkonto eingerichtet: Kreissparkasse Saarpfalz, DE24 5945 0010 1030 6152 88, BIC: SALADE51HOM, Empfänger: SPK-KooperationDPG-SpohnsHaus. Der Saarpfalz-Kreis koordiniert auch Hilfsgüter. Weitere Informationen: Julia Vogel, Saarpfalz-Kreis, Fachbereich Finanzen, Tel. 06841 104-8055, E-Mail: julia.vogel@saarpfalz-kreis.de.

Im Landkreis Sankt Wendel ruft die Hilfsorganisation „Freunde helfen! Konvoi“ zu Sachspenden für die Ukraine auf. Weitere Informationen unter: www.freundehelfenkonvoi.de.